Viele Menschen sitzen nach der Arbeit auf der Couch. Dort gibt es meiner Meinung nach, aber nur wenig zu sehen. Deswegen hat mir das noch nie gefallen. Lieber bin ich in Bewegung. Am Abend ziehe ich oft meine Laufschuhe an und renne durch den Park.
Das Wetter ist mir egal. Viele Freunde von mir haben zum Glück das gleiche Hobby. Wir laufen im Regen, im Schnee und natürlich auch im Sonnenschein. Dabei unterhalten wir uns und machen Scherze. Wir lachen und laufen bis wir müde sind. Danach schmeckt das Essen doppelt so gut. Gelegentlich nehmen wir auch an Wettkämpfen teil. Dann rennen wir auf einer genau ausgemessenen Strecke um die Wette. Der erste im Ziel bekommt einen Pokal. Eigentlich hat natürlich jeder gewonnen, der dabei ist. Er hat die Strecke geschafft! Das ist nicht immer leicht. Manchmal ist es rutschig, manchmal ist es heiß. Vor allem können die Wettkämpfe sehr lang sein. Am bekanntesten ist der Marathon. Das sind 42,195 km. Diese Veranstaltung wurde von den Griechen erfunden. Marathon ist ein Ort in Griechenland. Vor sehr langer Zeit herrschte dort Krieg: Die Menschen aus Athen und aus Persien bekämpften sich. Die Athener haben gewonnen. Athen liegt 40 km von jenem Kampfplatz entfernt. Man erzählt sich, dass ein Läufer von Marathon nach Athen gelaufen ist, um die frohe Botschaft des Siegs zu überbringen. Das waren ziemlich genau 40 km. Am Ziel ist der Bote leider erschöpft zusammen gebrochen.
Niemand weiß genau, ob diese Geschichte stimmt. Vielleicht ist sie nur erfunden. Das ist den meisten Sportlern aber egal. Hauptsache, der Marathonlauf ist erfunden.
Für viele ist es ein großer Traum, einmal einen Marathon zu laufen. Unterdessen gibt es solche Laufveranstaltungen überall auf der Welt. Jeder, der mitmachen will, muss eine kleine Gebühr entrichten. Mit dem Geld wird die Organisation finanziert. Allerdings klappt das nur, wenn zusätzlich sehr viele Menschen ohne Bezahlung helfen, denn es gibt viel zu tun. Die Laufstrecke wird dann für Autos gesperrt. Polizisten müssen den Verkehr umleiten. Es gibt Wasser und meistens auch Bananen zur Stärkung. Schließlich will niemand im Ziel zusammen brechen wie damals dieser Bote. Deswegen ist es auch wichtig, vorher viel zu trainieren. Wer einen Marathon schaffen will, muss sehr regelmäßig laufen. Nicht nur einmal um den Block sondern ein bisschen weiter. Mindestens drei Mal in der Woche oder sogar jeden Tag. Es gibt allerdings einige Menschen, die gerne noch längere Strecken in Angriff nehmen. Für sie ist ein Marathon quasi eine Kurzstrecke. Sie laufen 50, 100 oder 200 km. Solche Distanzen nennen sich Ultra-Marathon oder einfach Ultra.
Es gibt überall auf der Welt Ultra-Veranstaltungen. Manche sind im Gebirge und manche im Flachland. Einer dieser Ultra-Marathons verläuft fast vor meiner Haustür: Die Tortour de Ruhr.
Der Name Tortour ist eine Mischung aus zwei Worten. Tortur bedeutet, dass es eine Qual ist. Eine Tour ist dagegen ein Ausflug. Die Tortour de Ruhr ist also ein Ausflug mit Qual. Das liegt an der Streckenlänge: 230 km! Dieser Ausflug beginnt an der Ruhrquelle. Das Ziel ist dort, wo der Fluss endet. An dieser Flussmündung fließt die Ruhr in einen noch größeren Fluss, den Rhein. Die Sportler beginnen ihren Lauf in der Stadt Winterberg im Sauerland. Dort ist es ziemlich hügelig. Der Weg führt durch viele Orte bis zur Flussmündung in Duisburg. Die Flussmündung ist schon von weitem zu sehen, weil dort eine Landmarke aus Stahl steht. Die Markierung ist 25 Meter hoch und leuchtend orange angemalt.
Ein Bildhauer hat dieses sogenannte Rheinorange erfunden. Das Bauwerk soll darauf hinweisen, dass dort ein großer Hafen ist und ein wichtiger Ort für die Stahlindustrie. Unterdessen ist es auch ein wichtiger Ort für viele Läufer, denn es ist das Ziel der Tortour de Ruhr. Der Ausflug ist dort zu Ende und die Qual auch. Die Sportler laufen den ganzen Fluss entlang, um das orangene Bauwerk zu erreichen.
230 Kilometer sind wirklich kein Katzensprung. Es ist ungefähr fünfeinhalb Mal so lang wie ein Marathon. Das ist eine große Entfernung, jedenfalls wenn man kein Flugzeug ist. Deswegen schaffen diesen Ausflug nur wenige Personen. Sie müssen Tag und Nacht laufen. Der schnellste Läufer hat es bisher in knapp 27 Stunden geschafft. Viele Teilnehmer müssen sogar vor dem Ziel aufgeben, weil sie erschöpft sind. Natürlich könnte man die Strecke auch mit dem Fahrrad fahren oder mit dem Auto. Das wäre nicht so anstrengend, aber auch nicht so schön. Wer läuft kommt langsam voran und hat dabei viel Zeit, um die Aussicht zu genießen. Das lohnt sich, denn an der Ruhr ist es sehr schön. Es gibt viele Pflanzen und Wasservögel, manchmal auch Boote. An einem Fluss ist einfach immer etwas los.
Menschen, die gerne lange laufen, aber keine 230 km schaffen, können sich bei der Tortour de Ruhr zum Glück eine kürzere Strecke aussuchen: Von Hagen nach Duisburg führt die kleine Tortour an der Ruhr entlang. Das sind nur 100 km, also zweieinhalb Mal ein Marathon. 100 km sind schon deutlich mehr als ein Spaziergang. Aber für die sehr ausdauernden Läufer ist das nur Kinderkram. Deswegen hat dieser Lauf den Namen „Bambinilauf“. Das ist natürlich ein Scherz. Jeder weiß, dass es doch ziemlich anstrengend ist, 100 Kilometer zu laufen. Aber Läufer machen gerne Witze. Schließlich machen wir das alles freiwillig und wollen unseren Spaß dabei haben. Damit die Läufer während der 230 km oder 100 km nicht verdursten und verhungern gibt es Helfer. Sonst müsste jeder einen riesigen Rucksack mit Getränken und Essen tragen. Das finden viele nicht mehr so lustig. Außerdem macht es vielen Leuten Spaß, so ein Ereignis zu unterstützen. Jeder Helfer kann die Veranstaltung miterleben und muss sich selber nicht ganz so anstrengen.
Ich habe mehrmals bei der Tortour de Ruhr geholfen. Sie findet alle zwei Jahre zu Pfingsten statt. Wir haben also einen Pfingstausflug an die Ruhr gemacht. Zusammen mit Freunden standen wir dann die ganze Nacht am Fluss und haben gewartet, ob ein Läufer vorbei kommt. Dann bekam er Wasser, Kaffee oder Kekse. Manche wollten auch Kartoffelbrei. Wir haben uns bemüht, jeden Wunsch zu erfüllen. Ich habe dabei viele nette Menschen kennen gelernt. Obwohl sie sich so angestrengt haben, hatten alle Läufer gute Laune. Deswegen habe ich Lust bekommen, selber so eine lange Strecke zu laufen. Ich dachte mir, das ist ein richtiges Abenteuer. Niemand weiß genau, was an so einem Tag alles passiert. Daraufhin habe ich meine Laufschuhe noch etwas öfter angezogen als bis dahin und fleißig meine Muskeln trainiert. Um 100 km zu schaffen, muss man kräftige Beine haben. Endlich hatte ich das Gefühl, dass ich stark genug wäre. Ich wollte ein echter „Bambini“-Läufer werden!
Die Anmeldung für diesen Lauf ist allerdings nicht ganz einfach. Es ist nicht so wie an der Kinokasse, wo sich jeder einfach seine Eintrittskarte kauft. Für die Tortour de Ruhr braucht man eine Einladung. Das ist so ähnlich wie bei einer Geburtstagsparty. Der Chef der Tortour de Ruhr möchte nur Menschen dabei haben, die sich gut vorbereitet haben. Wer gerade einmal 10 km gelaufen ist, darf nicht sofort 100 km versuchen. Dann bekäme er schlechte Laune und müsste vielleicht zum Arzt. Wir wollen uns aber am Schluss nicht im Krankenhaus treffen sondern im Ziel. Das ist orange und 25 Meter hoch. Es gibt natürlich auch andere Ziele. Aber die sind nicht so schön.
Mit meiner Fitness war der Chef zufrieden. Es gab allerdings noch ein zweites Problem. Niemand darf sich allein anmelden. Jeder muss einen persönlichen Helfer mitbringen. Die Tortour de Ruhr ist nämlich eine kleine Veranstaltung. Alle 25 km gibt es ungefähr etwas zu trinken. Das bedeutet alle zwei bis drei Stunden. Für jemanden, der am Schreibtisch sitzt, ist das genug. Aber für einen Läufer ist das ziemlich wenig.
Außerdem kann es unterwegs sein, dass man den Weg nicht findet. Manchmal fließt die Ruhr sehr versteckt und die Schilder sind verwirrend. Es ist auch schon passiert, dass ein Läufer müde wurde und einfach irgendwo in der Wiese eingeschlafen ist. Dann kann ihn niemand mehr sehen und keiner weiß, ob er ertrunken ist oder aus anderen Gründen Hilfe braucht. Deswegen muss jeder Sportler mindestens einen Begleiter dabei haben, der auf ihn aufpasst. Der Begleiter sollte gut ausgeschlafen sein und möglichst nett. Es wäre eine unglückliche Angelegenheit, wenn sich das Team den ganzen Tag nur streitet. Am besten fährt der Begleiter auf dem Fahrrad. Da kann er Getränke mitnehmen und Schokolade oder Kekse. Dann kann der Läufer immer zugreifen, wenn er hungrig ist. Das macht es etwas leichter, eine lange Strecke zu laufen. Außerdem kann der Fahrradfahrer den Weg suchen. Wer einen Ultra läuft, möchte meistens nicht noch Umwege in Kauf nehmen. Mehr als 100 km ist dann ein Umweg. Für die Leute, die den ganzen Fluss entlang laufen, ist es erst ein Umweg, wenn es mehr als 230 km sind. Das ist eben alles sehr individuell.
100 km sind allerdings auch auf dem Fahrrad ganz schön weit. Deswegen wollte ich gerne mehrere Betreuer haben. Also habe ich meine Freunde gefragt, ob sie Pfingsten einen Tag mit mir am Fluss verbringen wollen. Mein Partner war nicht so begeistert. Er war der Ansicht, dass wir einfach so zusammen in der Sonne sitzen könnten. Laufen und Radfahren ist im Vergleich dazu ziemlich anstrengend. Aber weil ich es mir so gewünscht habe, hat er zugestimmt. Außerdem waren noch zwei Freunde bereit, einen Sonntag auf mich aufzupassen. Wir waren also ein Team von vier Personen. Das fand ich wunderbar, weil gemeinsam alles viel mehr Spaß macht. Ich habe wochenlang nur noch über diesen bevorstehenden Lauf gesprochen. Das fand mein Partner schrecklich. Er hätte lieber über andere Dinge geredet.
Schließlich war der große Tag gekommen. Ich freute mich, dass es endlich losging. Mein Partner freute sich, dass es nun bald vorbei war. Es war Pfingstsonntag und wir mussten mitten in der Nacht aufstehen. Es war noch dunkel, als wir zum Start nach Hagen fuhren. Normalerweise ist es kühl, wenn der Mond scheint. Aber in dieser Nacht war es nicht so. Der Wetterbericht hatte gesagt, dass Pfingsten sehr heiß werden würde. Als wir morgens um 5 Uhr mit dem Lauf starteten, waren schon 20 Grad. Ich wusste, dass es bei der Hitze besonders anstrengend werden würde.
Aber am Anfang war erst einmal alles nur schön. Wir waren ungefähr 25 Läufer und genauso viele Begleiter. Alle waren mit Stirnlampen ausgerüstet. In der dunklen Nacht blinkten unsere Lichter wie Glühwürmchen. Dann wurde es langsam hell. Über dem Fluss lag Nebel, das sah aus als hätte er ein Nachthemd an. Ich fühlte mich gut und war glücklich. Mein Partner hat auf dem Fahrrad gefroren und war müde. Er sagte, ich soll schneller laufen. Das habe ich lieber nicht gemacht. Ich wollte meine Kräfte sparen. Nach 25 km wurde mein Partner von einem anderen Radfahrer abgelöst. Außerdem kam die Sonne heraus. Ich hatte natürlich einen Sonnenhut auf. Außerdem hatte ich mich gut mit Sonnenmilch eingecremt, um einen Sonnenbrand zu verhindern. Regelmäßig trank ich Wasser und Apfelsaft. Aber ich konnte nicht so viel trinken, wie ich geschwitzt habe. Im Radio haben sie gesagt, dass es an dem Tag außergewöhnlich heiß war. Es war der heißeste Pfingstsonntag seit 50 Jahren. Ich hatte so ein Hitze-Pfingsten also noch nie erlebt. Aber ein langer Lauf ist eben immer ein Abenteuer.
Die ersten 50 km waren für mich noch nicht sehr schwierig. Es war heiß, aber auch sehr lustig. Einige Bekannte kamen an die Strecke und wünschten mir Glück.
Aber dann wurde es immer heißer und meine Füße immer müder. Meine Begleiter schütteten mir kühles Wasser über den Kopf. Das tat gut. Leider war das kühle Wasser gleich wieder warm. Zwischendrin habe ich immer wieder Pausen gemacht.
Einmal setzte ich mich auf eine Bank. Dort aß ich Rosinen und Lakritze aus unserem Proviant. Ein paar Spaziergänger haben das gesehen und sich gewundert. Sie dachten, Abenteuer gibt es nur in Afrika oder Amerika. Sie waren mit dem Auto an die Ruhr gefahren und trotzdem müde. Als ich erzählte, dass ich schon 70 km gelaufen bin, waren sie beeindruckt. Vor allem, weil ich so vergnügt war. Sie hatten gedacht, dass ein Mensch nach so einem langen Fußmarsch traurig und erschöpft ist. Das ist ein großer Irrtum. Sie wünschten mir noch viel Erfolg und ich machte mich mit meinem Team weiter auf den Weg.
Als ich 80 km geschafft hatte, wurde ich allerdings doch traurig. Ich war vertrocknet wie eine Rosine. Meine Beine fühlten sich an wie Pommes frites. Mein Partner war unterdessen wieder bei unserem Team dabei. Er sagte, ich sollte schneller laufen, dann wäre ich bald da. Aber ich konnte nicht mehr. Immer wieder musste ich vom Laufschritt in den Wanderschritt wechseln und mir Wasser über den Kopf gießen. Es waren deutlich über 30 Grad Celsius! Ich dachte schon, dass die orangene Stahlskulptur vielleicht abgerissen ist. Sie war einfach nicht zu entdecken. Kilometer um Kilometer hielt ich Ausschau.
Fünf Kilometer vor dem Ziel bekam ich noch eine Cola von meinem Team serviert. Sie waren wirklich prima und sehr um mich bemüht. So verwöhnt werde ich sonst selten. Schon deswegen lohnt sich so ein Lauf. Aber zu diesem Zeitpunkt konnte ich kaum noch schlucken. Mein Mund war sehr trocken. Er fühlte sich an wie zusammen geklebtes Sandpapier. Trotzdem bin ich Schritt für Schritt weiter vorangekommen. Endlich sah ich auch das Rheinorange. Da konnte ich tatsächlich wieder laufen. Noch einmal schüttete mir ein Begleiter Wasser über den Kopf. Dann rannte ich mit einem kleinen Endspurt zum Ziel. Ich hatte es tatsächlich geschafft! 100 km zu Fuß!
Im Ziel bekam ich eine Medaille und etwas zu trinken. Ich konnte mich ins Gras legen und die Schiffe beobachten. Ich konnte mich in einen Stuhl setzen und meine Schuhe ausziehen. Es war egal, was ich machte, alles war wundervoll. Außerdem habe ich alle meine Begleiter umarmt. Sie haben sich nicht beschwert, obwohl ich nass und salzig war wie ein Hering. Ohne mein Team hätte ich das nicht geschafft.
Nach mir kamen noch andere Läufer ins Ziel, die wir mit viel Beifall begrüßten. Alle waren glücklich und müde. Es war ein toller Tag. Nur hätte ich gerne einen Kühlschrank dabei gehabt. Da hätte ich mich unterwegs manchmal darin ausruhen können. Aber ein ganzer Kühlschrank wäre für meine Fahrradbegleiter doch ein bisschen viel gewesen.
Mein Partner musste nun ertragen, dass ich die nächsten Wochen wieder nur von der Tortour de Ruhr geredet habe. Ich hatte an diesem Tag so viel erlebt wie sonst in vielen Wochen. Manches war besonders schön, manches war besonders schwierig. So ein großer Lauf ist irgendwie nie vorbei. Er bleibt als Abenteuer für immer in unserem Kopf.
VIGLi
Weitere Berichte über die Tortour und andere Läufe in "Abgelaufen", agon Sport Verlag 2012
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