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Küstenglück

Küstenglück

Bestes Aprilwetter, die einen schnüren ihre Schuhe für den Frühjahrsmarathon, die anderen versammeln sich zu RTFs, nur ich renne zum Bahnhof. Streik am Freitag heißt für mich, das Wochenende mit dem Liebsten an der Nordsee fällt aus oder ich lasse mir was einfallen. Also, Homeoffice sei Dank, Donnerstag Abend in fliegender Eile die Taschen geschnappt und dann den Zug erwischt, der gerade noch fuhr bevor wieder einer ausfiel. Das Siegesgefühl ist unbeschreiblich, es sollte Bahnmedaillen geben für erfolgreiche Anreisen.

Die weiteren Wochenendpläne waren aber auch sportlich. Mein Freund alias Mister Wattzeit hatte wie so oft einen Termin, um Läufer mit Zeiten und Urkunden zu versorgen. 6-Stundenlauf in Nordholz. Ich hatte die Auswahl zwischen zugucken oder mitmachen. Wobei gemeinhin das Missverständnis besteht bei einem 6-Stundenlauf müssten unbedingt 6 x 60 Minuten gelaufen werden. Vielmehr ist es ein Zeitfenster und innerhalb dieses Rahmens kann sich jeder seine eigenen Ziele stecken. Nur die vorgegebene Strecke muss genutzt werden, was in diesem Fall eine 2,5 km Runde durch das schöne Nordholz war. Sehr abwechslungsreich mit Beginn auf dem Sportplatz dann mit Aussicht über Felder, entlang der kleinen Ortschaft in ein Waldstück und zurück zum Anfang.

Es gab eine Frau, die uns applaudierte, hin und wieder sogar durchs Mikrofon verstärkt. Ansonsten Ruhe statt Publikum, ein richtig entspannter Ausflug. Dabei wurde man jede Runde mit zwei Mal „Piep“ an den Messmatten beschenkt und wusste dann: Wieder 2,5 km im Sammlersäckchen. Dieses Dagobert-Duck-Gefühl mit jedem Schritt reicher zu werden. Eine feine Sache.

Blieb nur noch die Frage der Anreise. Nordholz hat zwar einen Flugplatz, aber keinen Bahnsteig. Und da das Wattzeit-Auto zum Glück kein Lastwagen ist, stellt es schon ein logistisches Meisterstück dar, sämtliche Kabel, Bildschirme und Messmatten dort hinein zu manövrieren. Ganz sicher passt aber jenseits des Fahrers kein Mensch mehr dazu. Wollte ich also in Nordholz laufen, musste ich mir was einfallen lassen. Das war nicht schwer, natürlich wollte ich das Fahrrad nehmen.

Mister Wattzeit beriet mich bei der Streckenführung. Der kürzeste Weg betrug 25 km. „Das ist zu kurz“, fand er und speicherte eine 30 km Tour für mich ins Navigationsgerät. Landschaftlich besonders schön.

Der Wettergott meintes es supergut mit uns, nach Tagen der Kälte waren über 20 Grad zu erwarten und obwohl ich wusste, dass solche Wetterwechsel meinem Kreislauf ordentlich zu schaffen machen, überwog die Vorfreude.

Während Mister Wattzeit also bereits vor Ort Piepsmatten und Bildschirme sortierte, schwang ich mich in die Pedale und strampelte mit breitem Grinsen im Gesicht durch die einsame Landschaft. Rapsfelder, ein Hünengrab, Möwen, Hasen, die Lerchen jubilierten und ich mit ihnen.

Keine Ampeln, kein Stau. Küste ist schon anders als NRW.

So war ich schneller als gedacht am Veranstaltungsort. Die ersten Läufer kreiselten bereits ihre Runden.

ich winkte ein paar Bekannten zu, parkte mein Rad und tauschte die Rad- gegen die Laufhose. Startnummer 8, meine Lieblingszahl. Statt schwitzender Mitläufer und Startschuss hieß es einfach:“ Da an der Fahne anfangen und über die Matte laufen“. Piep. Selten bin ich irgendwo so stressfrei an den Start gegangen.

Jetzt war ich also auch auf dieser Umlaufbahn der Nordholzer Gestirne. Die erste Runde schlüpfte in Windeseile unter meinen Schuhen hindurch, weshalb ich mich auf der zweiten Runde auch zwei Mal fast verlief, weil plötzlich keine weiteren Kreiselmenschen zu sehen waren und ich im Beginner-Rausch die Strecke gar nicht so richtig beachtet hatte. Dabei hatte sie es in sich, es gab kleine Erhebungen und Aussicht auf eine Windmühle, die aber vielleicht doch eine Fata Morgana war, denn auf meinem zugehörigen Foto sieht man nur Bäume. Dafür habe ich ein wunderbares Selfie mit zwei lieben Laufkollegen konserviert, so viel Zeit muss sein. Wanna, Berlin, Nordholz. Wo Läufermensch sich eben so trifft, es ist immer ein Ereignis.

Ab Kilometer 10 war mir die Runde sehr vertraut, obwohl sie irgendwie mit jedem Kreiseln länger wurde. Der kleine Hügel wuchs sich zu einer Steigung aus, wo ich Gehgeschwindigkeit ausreichend fand und an der Verpflegung nahm ich Wasser und Apfel gerne an, obwohl unterdessen ein Hauch von Landwirtschaft in der Luft lag, der dem Appetit nicht förderlich war. Ich begleitete einen 73jährigen Läufer auf seiner sechsten Runde und wie wir uns da in kurzer Zeit über ein halbes Leben austauschten, sowas gibt es eben nur beim Laufen.

Mein Ziel 10 Runden zu laufen schraubte ich zu diesem Zeitpunkt bescheiden auf 8 zurück, passte ja auch viel besser zu Startnummer 8. Die Wärme machte es ordentlich anstrengend und ich wollte schließlich noch zurück radeln. Die Energie für einen Zielsprint fehlte, obwohl der Sportplatz dazu einlud, aber schon ploppten auf dem Bildschirm die 8 Runden auf und Mister Wattzeit gab mir den Zielkuss. Etwas später erhielt ich eine schöne Urkunde und eine Medaille, aber vorher war dann noch Zeit für Kaffee, Kuchen und ein bisschen plaudern hier und da.

Dabei war es so warm, dass ich nicht Mal mein schönes blau-weißes T-Shirt wechseln musste, es war einfach gleich wieder getrocknet. Deswegen stand dann auch fest, dass ich den Rückweg entlang des Deichs und mit Ziel Fußbad im Otterndorfer See vornehmen wollte.

Ein bisschen also noch im Sonnenschein gefaulenzt und die Rundensammler beklatscht, dann ging es wieder auf in den Wind, der diesmal aber für Küsten-Verhältnisse nicht dramatisch war. Knapp 28 km Wald, Feld, Deich, Strandkabinen und anbaden immerhin bis zu den Knieen.

Ich war dann gerade geduscht als Mister Wattzeit auch wieder eintraf und wir uns um die weitere Kalorienzufuhr kümmern konnten. Später hat es dann ordentlich geregnet, das ist ja auch gut für die Blumen. Aber wie sich zwischen Streik und Gewitterguss solche sonnig-süßen Radellaufradel-Stunden entfaltet haben, das ist die eigentliche Glücksmedaille. Man muss sich nur was einfallen lassen.

VIGLi, 22. April 2023