„Warst du schon Mal hier?“
„Nein“.
„Komm mit, gehen wir den Rundweg.“ Zaghaft und staunend gehe ich mit.
Ein schmaler Trampelpfad zwischen Bäumen, seit Jahrhunderten gibt es hier keine forstliche Nutzung, die Ulmen und Buchen dürfen wachsen wie sie wollen, sind teils über 200 Jahre alt und ein Beweis dafür, dass Alter schön macht. Zwischen den Stämmen blinkt die Ostsee, Ich muss mich kneifen, träume ich oder ist das wirklich so, dass ich mit der Badekappe und einer Rettungsboje in der Hand durch den Wald stapfe? Nicht weit neben mir schmatzt das Wasser am Fels. Ich komme hier nur schwimmend wieder weg.
Wie konnte das passieren?
Schreiben auf der Insel Vilm, umgeben von viel Natur und wenig Mensch, das war ein Traum für mich. Aber wie kommt man zu inspirativen Inselmomenten, wenn das Eiland nicht zugänglich ist und allenfalls im Rahmen einer Naturschutzexkursion begangen werden darf? Wer Vilm im Netz sucht, stößt bald auf das Vilm- Schwimmen. Seit 24 Jahren landen jährlich im August 400r Begeisterte mit dem Boot auf der kleinen Insel und schwimmen zurück.
2,5 km.
Super dachte ich mir, das ist ja nicht so weit, jedenfalls, wenn man läuft. Aber als ich meinen Franks (so nenne ich meine Triathlonkollegen) davon erzählte, zogen sie die Augenbrauen hoch und sagten. In der Ostsee?
Wellen, Quallen und es ist kalt.
Vielleicht eben doch nicht so leicht für jemanden wie mich, der zwar gerne in jedes Gewässer hüpft, aber im Schwimmbecken immer doppelt so lange für eine Bahn braucht wie die Athleten aus meinem Verein. Und die Ostsee ist kein Schwimmbecken. Der Beckenrand nicht 50, sondern 2500 Meter entfernt.
Aber im August ist es doch warm. Und überhaupt, ich kann ja trainieren sagte ich mir nachdem ich mich am 1.1. des Jahres wild entschlossen angemeldet hatte. Zum Bäume gucken eigentlich, zum Schwimmen in Wirklichkeit.
Ich ging also Freitag morgens mit meinen Franks um 6 Uhr zum Schwimmtraining, ließ mich im See von Zerkarien zerbeißen und probte in der Elbmündung bei herbstlichem Wetter. Ich wurde nicht schneller, aber erfahrener.
Der Sommer blieb zurückhaltend. Und Rügen ist nicht Mallorca, da gibt es die frische Brise immer inclusive. Je näher der Schwimm-Termin rückte, desto mehr beschäftigte mich das Thema Kälte. Ein Neopren war verboten und ich fragte mich, wie meine Überlebenschancen als Langsamschwimmer und Frostbeule in solchen Gewässern waren. Ich lernte, wie sich Unterkühlung anfühlt (man merkt wenig bis man untergeht), dass ein Badeanzug doch schon ein bisschen wärmt und zwei Badekappen übereinander eine gute Idee sind, weil 30 % der Temperatur über den Kopf entweicht. Im Übrigen sollte ich mir die unbekleideten Stellen mit Vaseline einreiben, also fast alles, dann wurde ich den Enten noch ähnlicher als ich schon war. Ein Fisch wird man jedenfalls trotzdem nicht.
Dennoch, ich war also vorbereitet und stand am Vorabend des Wettkampfs am Hafen von Lauterbach, betrachtete die Insel, die allmählich im Nebel unsichtbar wurde und versuchte Leute mit Erfahrung kennenzulernen.
„Na, morgen auch beim Vilm-Schwimmen?“, quaschte ich einen Urlauber an, der mit mir versonnen zu der Insel starrte. „Was, was für ein Schwimmen? Nein sicher nicht.“ Es war wie verhext, DAS Vilm-Schwimmen fand statt und ich traf immerzu nur auf Urlauber, die noch nie etwas davon gehört hatten. Mein zweiter Gesprächspartner war immerhin Marathonläufer und konnte den Gedanken, Strecke zu machen, direkt aufs Wasser übertragen. „Super, das ist bestimmt reizvoll, viel Glück.“ Endlich erwischte ich noch den Veranstalter, der mir versicherte das Wasser hätte 19 Grad und das könnte man ohne Probleme auch aushalten, wenn man länger als eine Stunde unterwegs sei. Außerdem sei Ostwind und wir würden dann sowieso im Hafen angespült. Immerhin, aber es sollte halt nicht meine Leiche sein, die da ankam, so wie die toten Quallen, die mit der Strömung in die Buchten geschoben wurden.
Ich schlief schlecht, war früh wach, holte die Startunterlagen. Ein Transponder, ein T-Shirt, Proviant und eine Rettungsboje. Aber was sollte ich mit der Boje anfangen, wenn ich erfror? Da würde mir ja noch kälter werden, wenn ich nur mit einem Luftkissen unterwegs war. Schwimmen war die einzige Option.
9:30 Uhr wurden wir offiziell begrüßt und dann ging es auch schon zu den Booten. Ich fuhr mit der „Kleine Freiheit“, die als erstes ablegen sollte. Je früher ich drüben war, desto mehr Zeit für die Insel war meine Überlegung. Die Kälte der letzten Tage war schlagartig verschwunden, als der Morgennebel sich auflöste schien die Sonne von wolkenlosem Himmel und ich bereute schon, dass ich zwar mit Jacke, aber ohne Sonnenhut aufgebrochen war. Auf dem Schiff wähnte ich mich unter Gleichgesinnten und fragte meine Sitznachbarn, ob sie zum ersten Mal schwimmen würden. Entsetzte Gesichter. Schwimmen? Die kleine Gruppe tuschelte. „Ich dachte, der Kapitän macht Witze, als er sagte, alle müssen zurückschwimmen.“ „Film habe ich verstanden“ mischte sich eine zweite ein. „Ich dachte es geht um Filmaufnahmen“.
Es dauerte eine Weile bis wir geklärt hatten, dass die Kleine Freiheit eigentlich nach Baabe auf Rügen fuhr und nur einen Abstecher nach Vilm machte, um uns Schwimmwillige auszusetzen.
Als die ersten 200 Badekappenbesitzer anlandeten, tauchte plötzlich die Frau neben mir auf, die den Inselrundgang vorschlug. Erst war ich skeptisch, denn ohne Begleitboot wollte ich nicht zurück, aber die Neugier war zu groß und so gingen wir los, bestaunten Bäume, das Steilufer, die Stille. 3 km. Zu Fuß geht das schnell. Dann war unser Aufenthalt auch schon um, es hieß sich startklar zu machen und alles, was man im Wasser nicht brauchte in einen nummerierten grauen Müllsack zu packen, der dann mit Boot Julchen zurück in den Hafen Lauterbach transportiert wurde während wir es mit Muskelkraft schaffen mussten.
Auf dem Ponton sammelten sich unterdessen die gelb behaubten Schwimmfreudigen und mir wurde klar, dass wir nun ins Wasser springen mussten. Ich ließ erst die Füße vorsichtig in das kühle Nass baumeln, aber es blieb nicht viel Zeit zu zögern. Noch vier Minuten, sagte ein Sprecher, es war also Eile geboten, damit alle Schwimmer zu der Startlinie schwimmen konnten. Dann zählten wir noch 10 9 8 7 6….0 und schon setze sich der Schwarm in Bewegung. Um mich her Arme, Beine, Badekappen, salziges Wasser. Bis zur ersten Boje schwappten wir noch im Pulk, dann zog sich das Teilnehmerfeld immer weiter auseinander.
Die Ostsee und ich.
Rechts und links von uns hatten Boote der Wasserwacht die Schwimmstrecke abgesperrt, Kanuten paddelten neben uns her und bewachten uns. Die Sonne und den Wind hatten wir im Rücken, was ein großer Vorteil war. Erst kraulte ich sehr konzentriert, versuchte dabei die orangenen Bojen im Blick zu behalten, dann machte ich Pause indem ich zum Brustschwimmen wechselte. Das geht also, Pause im Wasser ohne Luftmatratze. Ich sah mich um, nach rechts, links, hinten, vorne, überall Wasser, klein VIGLI in der großen Ostsee. Ich grinste vor mich hin und schluckte trotzdem kein Wasser. Es lief. Oder besser gesagt, es schwamm, ich schwamm! Bis zur Hälfte der Strecke war es nicht wirklich schwer, aber das war eben erst die Hälfte. Die Wellen wurden stärker, meine Arme schwächer. Ich bekam kalte Hände und versuchte ein bisschen Fingergymnastik. Auch die Beine wurden frostig, ich bemühte mich um einen stärkeren Beinschlag, aber daraufhin zwickte eine Wade. Eine Warnung, dass mir ein Krampf drohen könnte. Also lieber wieder entspannen. Ich dachte an die Schriftstellerin Carmen Rohrbach und wie sie stundenlang auf der Flucht durch die Ostsee geschwommen war (tolles Buch) und ich dachte an all die Menschen, die auf dem Wasserweg schon ertrunken sind. Es ist ein unwirtliches Element. Ich konnte keinen so gleichmäßigen Rhythmus finden wie beim Laufen, aber ich kam stetig voran, von Boje zu Boje.
Der Hafenbereich wurde immer größer, der Tag war sonnig, die Sicht gut, Kanuten fragten, ob alles in Ordnung sei und zeigten uns den Zielkanal. Mir fiel ein Bericht ein, in dem es hieß, die meisten Leute ertrinken in nur 10 Meter Entfernung vom Ufer. Ich wollte nicht ertrinken. Da sah ich auch schon die sichere Treppe, Helfer und Publikum, sie klatschten als wäre ich der erste Mensch, der hier ankam, dabei war ich 336 von 347, die es diesmal gewagt hatten. Mir kamen die Tränen, aber im Wasser ist sowieso alles nass, meine Augen waren längst vom Salzwasser verquollen. Die Schönheit kommt dann erst hinterher wieder, wenn einen die Freude rosig schminkt.
Die Stufen, die Zielmatte.
Meine Güte, ich bin von Vilm nach Rügen geschwommen, dachte ich erstaunt. Jemand legte mir ein Handtuch um, führte mich zum Verpflegungszelt. Die Helfersleute sind hier wirklich eine Liga für sich, lauter Schutzengel. Ich war aber noch zu seekrank, um etwas zu essen. Ostsee ist eben nicht Schwimmbecken. Nach der heißen Dusche erholte sich mein Kreislauf schnell und der nächste Gedanke war: Hunger. Pizza und Kuchen rutschten in meinen Magen als wäre er groß wie ein Walfisch. Wir beklatschten noch die pfeilschnellen Sieger und führten unsere leuchtenden T-Shirts mit der Aufschrift "Der Bodden brodelt" abends zur Schwimmerparty aus. Ein DJ sorgte für Musik, an drei Buden gab es Leckeres und wir Ostsee-Überquerer rockten in Badeschlappen unter freiem Himmel zu allem, was die Lautsprecher hergaben. „So schön, dir beim Tanzen zuzusehen, so frei!“, sagte jemand zu mir.
Ja, so ist das, ich bin dem Wasser entkommen, bin frei hinzugehen wohin ich will, vielleicht auch wieder nach Vilm, um zurückzuschwimmen. Denn ich weiß jetzt, dass ich es kann.
VIGLi, August 2023